Mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Das Rufen des Bedrängten in Psalm 22, der auch Jesus am Kreuz zugerechnet wird, beginnt mit einem Blick in die Finsternis und die Erfahrung der Abwesenheit Gottes. 

Der klagende Ruf lautet: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Im Kontext mit diesem Ruf findet eine Klage statt über die Drangsal, die von unseren Mitmenschen ausgeht und die uns schwer zusetzen, ohne klar ersichtlichen Grund, ohne dass ein erkennbarer Fehler auf unserer Seite vorliegen würde. Dieser Zustand wird von der Seele nicht so einfach angenommen und sie gerät in einen temporären Zustand der Klage gegen Gott. 

Die irrtümliche Idee dahinter ist die, dass es nicht richtig sein könne, wenn uns andere Menschen auf diese Weise ablehnen und uns nichts Gutes, sondern uns Schlechtes antun wollen. Die Meinung aber, dass etwas Falsches passiere, bewirkt auch, dass man Gott nicht mehr sehen kann. Denn denjenigen Gott, der dies alles geschehen lässt, hält man nicht mehr für Gott, sondern für etwas Böses, von dem man sich abwenden möchte. Diese Abwendung vor einem vermeintlich gemeinen oder wahnsinnigen Wesen führt dazu, dass man meint, Gott sei tatsächlich verschwunden und habe einen im Stich gelassen in einer furchtbaren Situation.

Nun endet dieser Irrtum im Psalm 22 bald und wird ersetzt durch die Erkenntnis, dass Gott auch dann da ist, wenn man nur ruft und ihn nicht sieht. Bald schon erkennt der Rufende wieder die Gegenwart Gottes und es setzt das Heilsgeschehen ein, das während der Anklage verschattet und unterbunden war.

Die Klage gegen Gott muss überwunden werden und das geschieht im Vertrauen auf Gott auch dann, wenn sich andere Menschen gegen uns wenden und mit uns nichts mehr zutun haben wollen. Denn diese Menschen wollen ja letztlich mit Gott nichts zu tun haben und seinetwegen wenden sie sich von uns ab, weil auch sie gegen Gott klagen wegen der Fehler ihrer Mitmenschen.

Wenn wir aber unsere Klagen über das Verhalten unserer Mitmenschen einstellen, ihnen vergeben und keinen grundsätzlichen Fehler im Geschehnis mehr vermuten, so endet die Phase der Dunkelheit und Gott wird wieder sichtbar, weil wir wieder zu Gott blicken und in der Gottesschau sind, die dem reinen Herzen entspricht, das nicht klagt, sondern vertraut. 

Gott hat uns also in Wahrheit nie verlassen, sondern wir haben uns in Irrtümer und Anklagen verrannt, die so nicht stehen bleiben können, wenn man Gott finden möchte. Das Verhalten unserer Mitmenschen ist kein Indikator dafür, dass grundsätzlich etwas nicht stimmen würde. Auch ihre Anklagen gegen uns und ihre Abwendung von uns ist kein Fehler im System, sondern einfach nur der Lauf jener Dinge, die sich in diesem Leben erfüllen müssen, weil es zu dem gehört, wozu uns das irdische Leben dient.

So mögen wir auch in der Ablehnung durch unsere Mitmenschen zurückfinden zur Danksagung zu Gott und nicht in Abscheu vor einem vermeintlich teuflischen Wesen verfallen. Denn alles dient am Ende doch nur einem, nämlich unserem Heil. So sagt es auch der Psalm 22:

„Die Sanftmütigen werden essen und satt werden; es werden den HERRN loben, die ihn suchen; leben wird euer Herz für immer. Es werden daran denken und zum HERRN umkehren alle Enden der Erde, und vor dir werden niederfallen alle Geschlechter der Nationen.“

Denn die Sanftmut besteht selbstverständlich darin, seine falschen Anklagen zu überwinden und dann wird man auch wieder versorgt und geheilt von Gott und kann an der Auferstehung teil nehmen. Nun erkennen das noch wenige, aber am Ende wird es so sein, wie jede wörtliche Übersetzung des Psalm 22 es richtig weitergibt und kündet: Alle werden letztlich zum Herrn umkehren und ihre Klagen einstellen, um Gott dankbar zu werden und ihm treu zu sein in Liebe und Einheit.

So seid also wohlgemut in der Stunde der Anfechtung denn es ist nur der Heilsweg, den ihr da geht. Dankt und preist Gott in allem und wähnt euch nicht in der Hand eines teuflischen Löwen und einer arglistigen Schlange, wie es jene tun, deren Weg noch länger ist. Nein, seid fröhlich, während die Unverständigen euch ablehnen, denn auch sie werden irgendwann, Gott weiß wann, ihre Herzen bekehren zur Sanftmut und zum Vertrauen und dann dankbar sein für alles in allem. 

Thomas Ihli
Thomas Ihli

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